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WAGENLENKER - Der Wagenlenker von Delphi

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2018-07-27 2022-02-21 27.07.2018
Archaeologisches Museum Delphi 0029
Wagenlenker von Delphi (638 Wörter), Wagenlenker von Delphi (3.037 Wörter),

Der Besuch der archäologischen Stätte von Delphi ist allein schon durch ihre spektakuläre landschaftliche Lage ein überwältigendes Erlebnis für jeden natur- kulturinteressierten Griechenlandreisenden. Auf der östlichen Seite ist eine tiefe Kluft, aus der die beiden steilen Phädriadenfelsen emporzuwachsen scheinen, unterhalb des Apollonheiligtums liegt das tief eingeschnittene, mit Olivenbäumen bewachsene Tal des Pleistos, das sich zum Meer hin in die weite Ebene von Itea öffnet. Hier soll jedoch eine andere Sehenswürdigkeit beschrieben werden, die nicht so gleich ins Auge sticht wie die delphische Landschaft. Denn sie befindet sich – nur wenige Schritte von der archäologischen Stätte entfernt – im Archäologischen Museum von Delphi, wo nur für sie ein eigener Raum eingerichtet wurde, in dem man sie von allen Seiten betrachten und bewundern kann: die berühmte, originale Bronzestatue des Wagenlenkers von Delphi.

Archaeologisches Museum Delphi 0025
Wagenlenker von Delphi (638 Wörter), Wagenlenker von Delphi (3.037 Wörter),

Die Figur hat eine Größe von 1,80 m. Der dargestellte junge Mann trägt die Xystis der Wagenlenker, einen knöchellangen, ärmellosen Chiton, der unter der Brust gegürtet ist. Zwei Bänder sind um die Schultern geführt und kreuzen sich im Rücken, um während des Wagenrennens ein Aufblähen des Stoffes zu vermeiden. Um die lockigen Haare liegt ein am Hinterkopf verknotetes, verziertes Stirnband, vermutlich die Binde des Siegers. Die rechte Hand hält locker die Zügel für das Pferdegespann. Der Kopf ist leicht nach rechts gedreht und bildet einen Kontrapost zu dem etwas in die Gegenrichtung zeigenden linken Fuß. Der Gesichtsausdruck erscheint ruhig und konzentriert. Der Wagenlenker ist eine der ganz wenigen Bronzestatuen, bei der die mit Glasflusseinlagen gearbeiteten Augen original erhalten sind und dem Gesicht Lebendigkeit verleihen. Beeindruckend ist die aufrechte, frei und entspannt wirkende Haltung des Wagenlenkers. Durch die ausgewogenen Proportionen strahlt die Statue Schlichtheit und Harmonie aus. An solche Gestalten mag Winckelmann gedacht haben, als er von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ sprach, die die Meisterwerke der griechischen Antike auszeichnet. An den Armen, Füßen und im Nacken ist jeder Muskel, jede Ader so naturalistisch gearbeitet, dass der Wagenlenker fast lebendig wirkt. Wenn man das Kunstwerk betrachtet, kann man nachvollziehen, weshalb Platon im Phaidros ausgerechnet die Metapher eines Wagenlenkers wählte, um zu veranschaulichen, wie der Mensch seine Vernunft gebrauchen soll, um das „widerspenstige Pferd der Leidenschaften“ und das „willige Pferd“ des Mutes miteinander in Einklang zu bringen und zu zügeln.

Archaeologisches Museum Delphi 0030
Wagenlenker von Delphi (638 Wörter), Wagenlenker von Delphi (3.037 Wörter),

Der Wagenlenker war ursprünglich Teil einer Statuengruppe, die aus einem Viergespann, dem Wagen und dem darauf stehenden Wagenlenker bestand. Durch eine auf einem Basisblock gefundene Inschrift lässt sie sich als Weihgeschenk des Tyrannen Polyzalos von Gela auf Sizilien nachweisen. Dieser hatte die Statuengruppe anlässlich eines Sieges im Wagenrennen bei den Pythischen Spielen dem Apollonheiligtum gestiftet. Da nach 470 v. Chr. alle Sieger der Pythischen Spiele aufgezeichnet wurden, lässt sich das Siegesjahr ziemlich genau auf 474 oder 478 v. Chr. datieren. Um diese Zeit muss wohl auch der Auftrag für die Schaffung der Statuengruppe erteilt worden sein, denn sie wurde im sogenannten „Strengen Stil“ am Übergang der Archaik zur frühen Klassik gearbeitet. So weist zum Beispiel das Gesicht des Wagenlenkers nicht mehr das „Archaische Lächeln“ auf. Es wirkt zwar schon natürlicher als die Gesichter der archaischen Kuroi, aber es ist idealisiert dargestellt und trägt noch keine persönlichen Merkmale.

Archaeologisches Museum Delphi 0028
Wagenlenker von Delphi (638 Wörter), Wagenlenker von Delphi (3.037 Wörter),

Leider ist nicht mit Sicherheit bekannt, welcher Künstler die Statuengruppe geschaffen hat. Ursprünglich war sie wohl in der Nähe des Apollontempels aufgestellt, in dessen Nähe der bis auf den fehlenden linken Arm kaum beschädigte Wagenlenker 1896 bei den archäologischen Ausgrabungen gefunden wurde. Vom Rest der Statuengruppe haben sich nur Fragmente erhalten, die ebenfalls im Archäologischen Museum ausgestellt sind.

Wagenlenker 0003
Wagenlenker von Delphi (638 Wörter), Wagenlenker von Delphi (3.037 Wörter),

Man nimmt an, dass der Wagenlenker und sein Viergespann im Jahr 373 n. Chr. bei einem Erdbeben beschädigt und durch einen Erdrutsch begraben wurden. Vielleicht zum Glück für die Nachwelt, denn viele andere Bronzestatuen der Antike gingen der Menschheit für immer verloren, weil sie eingeschmolzen wurden, um aus der Bronze Waffen herzustellen. Umso dankbarer können wir sein, dass dieses einzigartige Kunstwerk gerettet werden konnte.